Eine weltweite Pandemie, Ausgangsbeschränkungen und Lockdowns, abgesagte Wettkämpfe und somit keine Möglichkeit, sein Können unter Beweis zu stellen.
Das Jahr 2020 war für die meisten Hobby-Athleten ein sportlicher Totalschaden.
Für einen Elite-Läufer hingegen hätte das Jahr nicht besser laufen können.
Der 24-jährige Joshua Cheptegei läuft in allen seiner drei Rennen schneller als jeder Mensch zuvor und begeistert die internationale Laufszene mit drei Weltrekorden.
In diesem Artikel
Über Umwege zum Superstar
In Kapchorwa, einem Distrikt im Osten von Uganda, erblickt ein Kind am 12. September 1996 das Licht der Welt.
Knapp 20 Jahre später wird es die internationale Laufszene ordentlich ins Wanken bringen.
Doch die Laufbahn von Joshua Cheptegei führt erst über Umwege zum Ausdauersport.
Denn in der Grundschule versucht sich der junge Ugander erst am Weit- und Dreisprung sowie am Fußball.
Im Mannschaftssport glänzt Cheptegei aber weder durch Spielwitz oder technische Finesse noch durch körperliche Robustheit.
Doch dank seiner Schnelligkeit kann sich der junge Afrikaner gegen ältere und körperlich überlegene Spieler durchsetzen.
Obwohl Cheptegei sein Lauftalent schon früh erkennt, fokussiert er sich auf seine schulische Ausbildung.
Im Alter von 17 Jahren und erst nach seiner Schulzeit beginnt der begabte Ugander ernsthaft für eine Laufkarriere zu trainieren.
Ein Jahr später wird sein Talent vom niederländischen Trainer Addy Ruiter entdeckt.
Ein Niederländer erobert Uganda
Addy Ruiter ist selbst begabt genug, um eine sportliche Karriere einzuschlagen.
Damals erntet er den Respekt der holländischen Ausdauerszene, weil der Niederländer die 10.000 Meter in unter 30 Minuten laufen kann.
Zudem erreicht der jetzige Lauftrainer eine Top-5-Platzierung bei den niederländischen Triathlon-Meisterschaften.
Die Ironie des Schicksals:
Laut eigener Aussage fehlte ihm stets die Ausdauer, um sein Training diszipliniert zu verfolgen.
Ruiter entscheidet sich gegen eine Karriere als Sportler und für eine Reise um die gesamte Welt.
Nach einer mehrjährigen Exkursion rund um den Globus – er bereiste insgesamt mehr als 90 Länder – hat der Holländer eine Erleuchtung.
Addy Ruiter hat sich seinen Lebenswunsch durch das Reisen erfüllt.
Jetzt will er anderen dabei helfen, ihre Träume zu verwirklichen.
Den größten Erfolg als Ausdauercoach hat Ruiter nachdem er das niederländische Lauf-Talent Roy Hoornweg entdeckt und ihn im Jahr 2015 zum nationalen Meisterschaftstitel über 10.000 Meter trainiert.
Drei Jahre später schließt sich Ruiter dem NN Running Team an, wo er die Trainingspläne für die ugandischen Elite-Läufer entwickelt.
Darunter auch den für Joshua Cheptegei.
Der König der Langstrecke
Ruiter entdeckt Cheptegeis Potenzial, nachdem der Ugander bei den Juniorenweltmeisterschaften 2014 in Oregon Gold über 10.000 Meter gewinnt.
Mit gerade einmal 18 Jahren wirbelt Joshua Cheptegei die Laufszene in den darauffolgenden Monaten ordentlich auf.
In Laredo verbesserte er den ugandischen 10-Kilometer-Nationalrekord auf 27:46 Minuten, ehe er bei den Olympischen Spielen über 10.000 Meter zwar nur Sechster wird, aber eine persönlichen Bestzeit von 27:10,06 Minuten läuft.
Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften von 2017 gewinnt Cheptegei die Silber-Medaille in London.
Danach zählt der Ugander zum Favoritenkreis der Laufszene.
Dieser Rolle wird Cheptegei in den nächsten beiden Jahren mehr als gerecht.
2018 gewinnt der Elite-Läufer aus Uganda die Goldmedaille über 5.000 und 10.000 Meter bei den Commonwealth Games.
Ein Jahr später setzt sich Cheptegei bei den Crosslauf- und den Leichtathletik-Weltmeisterschaften die Krone auf.
Er gewinnt beide 10-Kilometer-Rennen.
Zu diesem Zeitpunkt experimentiert Addy Ruiter mit der Periodisierung der Trainingszyklen seines ugandischen Schützlings.
Statt die Spitzenform – wie üblich – nur zweimal im Jahr zu erreichen, soll Cheptegei seine Höchstleistung jährlich mehrfach abrufen können.
Als er Ende 2019 den Weltmeistertitel in seiner persönlichen Bestleistung von 26:48,36 Minuten läuft und schon im Dezember den 9 Jahre alten Weltrekord im 10-Kilometer-Straßenlauf bricht, ahnen die Experten bereits, was der Laufszene im darauffolgenden Jahr bevorsteht.
Eine Pandemie bringt die Laufszene ins Wanken
Zwar wird die Weltrekordzeit im Straßenlauf über 10.000 Meter bereits nach sechs Wochen von dem Kenianer Rhonex Kipruto auf die aktuell noch bestehenden 26:24 Minuten verbessert.
Doch Joshua Cheptegei nimmt im Jahr 2020 erst so richtig an Fahrt auf.
Innerhalb von acht Monaten bricht der junge Ugander gleich drei Weltbestleistungen.
Im Februar diesen Jahres startet die Jagd nach den Rekorden.
Zunächst verbessert der 23-jährige Cheptegei den Weltrekord im 5-Kilometer-Straßenlauf um eine knappe halbe Minute.
Bei der 2. Auflage des Monaco Run im Fürstentum an der Mittelmeerküste bleibt der aus Uganda stammende Profi als erster Mensch bei einem Straßenrennen unter 13 Minuten – nach 12:51 Minuten überquert Cheptegei die Ziellinie.
Was dann folgt, sind harte Zeiten für Hobby-Athleten und für Profi-Sportler gleichermaßen.
Das Virus SARS-CoV-2 – auch bekannt als das Coronavirus – hält die Welt zunehmend fester im Griff.
Es folgen Lockdowns: temporär staatlich verordnete und durchgesetzte Massenquarantänen mit Einschränkungen des öffentlichen Lebens, um die Corona-Pandemie einzudämmen.
In Europa stehen überfüllte Krankenhäuser, Hamsterkäufe, Ein- und Ausreise-Bestimmungen und Kontaktverbote auf der Tagesordnung.
Mit der Absage der olympischen Spiele in Tokio fällt der erste Dominostein.
Sämtliche im Frühjahr geplanten Wettkämpfe und Laufveranstaltungen werden zwar voller Optimismus zunächst in den Herbst des Jahres verschoben.
Doch mit der rasanten Ausbreitung des Virus schwindet auch zunehmend die Hoffnung auf eine geregelte Laufsaison in der zweiten Jahreshälfte.
Natürlich stellt das Coronavirus auch die Menschen in Uganda vor bislang unbekannte Herausforderungen.
Schulen werden geschlossen, in öffentlichen Gebäuden und auf den Straßen sind Mund-und-Nasenschutzmasken zu tragen.
Seit Jahren ist die Wirtschaft des ostafrikanischen Landes im Aufschwung – die Quarantäne-Maßnahmen beeinflussen die prosperierende Ökonomie jedoch negativ.
Sowohl die Benzin- als auch die Lebensmittelpreise steigen.
Aufgrund der Schließung vieler Hotels, Gästehäuser und Firmen wird das Personal entlassen.
Kurzarbeitergeld und staatliche Unterstützung gibt es in Uganda nicht.
In Folge der Arbeitslosigkeit und dem fehlenden Einkommen vieler Ugander sinkt die allgemeine Kaufkraft – die Wirtschaft bricht ein.
Immer positiv bleiben
Aus all diesen negativen Auswirkungen der globalen Pandemie versucht Joshua Cheptegei jedoch das Positive herauszuziehen.
Denn normalerweise trainiert der junge Profiläufer in dieser Jahreszeit mit seinem Team in Europa.
Aufgrund der Ausreisebeschränkungen kann Cheptegei sein Heimatland jedoch nicht verlassen.
Doch statt Trübsal zu blasen, genießt er die Zeit mit seiner Familie, unterstützt seine Großeltern bei der Gartenarbeit und hilft bei Renovierungsarbeiten in der örtlichen Grundschule.
Dabei verliert Cheptegei seine Rekordjagd aber niemals aus den Augen.
Der Langstreckenläufer trainiert weiterhin zwölf Mal pro Woche, um seine ambitionierten Ziele zu erreichen.
Eine klassische Trainingswoche sieht dabei Doppeleinheiten von Montag bis Freitag vor – Samstags und Sonntags steht hingegen nur jeweils ein Lauf an.
Der Dienstag ist im Profi-Sport allgemein bekannt als „TrackTuesday“ – an diesen Tagen arbeitet Cheptegei auf einer privaten Laufbahn an seiner Geschwindigkeit.
Bei der Länge und dem angestrebten Tempo der Intervalle übt sich der junge Ugander in Schweigen.
Kaum ein afrikanischer Profi-Athlet erlaubt der Öffentlichkeit detaillierte Einblicke in das eigene Tempo-Training.
Lediglich bei den langsamen Läufen ist Cheptegei ein offenes Buch.
Die lockeren Trainingseinheiten läuft der junge Profi in einer gemütlichen 6:30er Pace.
Ein Tempo, was die eigene Easy pace komplett in Frage stellt.
Der Aufstieg auf den Olymp
Das Training des jungen Profis verläuft jedoch bei Weitem nicht ideal.
Als Teil der coronabedingten Einschränkungen ist auch Ausdauersport in Uganda untersagt.
Cheptegei und sein Team trainieren ab Mai deshalb in den Bergen von Kampchorwa – knapp 250 Kilometer nordöstlich von Ugandas Hauptstadt Kampala, nahe der Grenze zu Kenia.
Das ungeplante Höhentraining hebt Cheptegei jedoch auf ein völlig neues Leistungsniveau.
Ein Niveau so hoch, dass selbst der Athletenmanager Jurrie van de Velden ins Schwärmen kommt:
„Joshua ist in der besten Form seines Lebens. Wir wissen, dass der Weltrekord über 5.000m eine große Nummer ist, weil er in den letzten Jahren mehr ausdauer- als schnelligkeitsspezifisch trainiert hat. Aber seine Entwicklungsschritte in den letzten beiden Jahren waren gigantisch. Nach den letzten Tempoeinheiten wussten wir, dass der richtige Zeitpunkt gekommen ist!“
Der erste Leichtathletik-Höhepunkt nach der Coronapause findet erneut in Monaco statt.
Beim Diamond-League-Meeting am 14. August kann Cheptegei seine Höchstform abrufen.
Im Stade Luis II spult der Ugander die 12,5 Runden ab wie ein Uhrwerk.
Der Spitzensportler läuft die 400-Meter-Runden dabei in durchschnittlich 60 Sekunden – umgerechnet also 24 km/h.
Die Uhr stoppt für Cheptegei nach 12:35,36 Minuten.
Der Ugander knackt somit den 16 Jahre alten Weltrekord der äthiopischen Lauflegende Kenenisa Bekele (12:37,35 Minuten).
Doch als wären zwei aufgestellte Weltrekorde noch nicht genug, steigt Cheptegei knapp acht Wochen später endgültig auf den Olymp auf.
Am 07. Oktober gewinnt der 24-jährige Ugander das 10.000m Rennen in Valencia in einer Fabelzeit von 26:11,00 Minuten.
Cheptegei bleibt damit mehr als sechs Sekunden unter dem Weltrekord, den ebenfalls Kenenisa Bekele vor 15 Jahren aufgestellt hatte.
Als kleine Randnotiz: In jedem seiner Rennen, die Cheptegei im Jahr 2020 gelaufen ist, war der junge Ugander schneller als kein anderer Mensch vor ihm.
Cheptegei setzt neue Maßstäbe
„Es startet alles im Geist – wenn du an dich selbst glaubst, ist es auch möglich“, sagte Cheptegei nach seinem Weltrekord beim 5-Kilometer-Straßenlauf in Monaco im Interview mit World Athletics.
Es steht außer Frage, dass sich die mentale Stärke Cheptegeis auch auf seine Laufperformance auswirkt.
Drei Weltrekorde in acht Monaten.
Der Profi aus Uganda ist wahrlich der König der 5- und 10-Kilometer.
Zudem ist er auch auf dem besten Wege, die Laufszene über Jahre hinweg zu dominieren.
Denn der Langstreckenläufer gehört zu den wenigen Athleten, die sowohl den Weltrekord auf 5.000m als auch auf 10.000m halten.
Vor ihm haben nur neun Läufer diese Leistung erreicht.
Cheptegei reiht sich mit seinen jungen 24 Jahren in die Riege von Lauflegenden wie Paavo Nurmi, Emil Zatopek und Haile Gebrselassie.
Für Joshua Cheptegei gibt es nur ein Ziel: „Ich will der Beste aller Zeiten werden“, formulierte er unlängst in einem Interview.
Die Weltrekorde hat der Ugander bereits in seiner Tasche.
Um sein ambitioniertes Ziel zu erreichen, muss er lediglich noch einige Olympia- und WM-Titel gewinnen.
Die Frage ist nur: Wer will ihm seine Regentschaft streitig machen?
Solange Cheptegei weiterhin ehrgeizig, zielstrebig und gleichzeitig so bodenständig bleibt, wird der junge Profi auf Dauer nur schwer zu schlagen sein.
Es bleibt aber weiterhin spannend, ob Cheptegei auch langfristig im Straßenlauf neue Maßstäbe setzen kann.
Beim Halbmarathon in Gdynia konnte der Ugander mit seinem 4. Platz zumindest schonmal eine Duftmarke setzen.
Dieser Artikel ist zuerst in der LAUFZEIT 1/21 erschienen.