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2:50 Minuten pro Kilometer – anders ausgedrückt: Durschnittlich 21,1 km/h muss ein Mensch schnell sein, um die Marathon-Distanz von 42,195 Kilometern sub 2 Stunden zu laufen.
Ein Ziel, was von Kritikern lange Zeit nur milde belächelt wurde.
Nachdem Eliud Kipchoge beim Berlin-Marathon 2018 den Weltrekord aber um 78 Sekunden auf die neue Bestzeit von 02:01:39 Stunden pulverisiert hatte, verstummten auch die letzten Tadler.
Schon lange dreht es sich nicht mehr um die Frage, ob ein Mensch einen Marathon unter zwei Stunden laufen kann.
Vielmehr geht es nur noch um den Zeitpunkt, wann die magische Schallmauer endlich durchbrochen wird.
Der König der Langstrecke
Marathon-Weltrekordhalter, Olympia-Sieger, Crosslauf- und dreimaliger Abbott World Marathon Major Weltmeister – wer von Eliud Kipchoge spricht, kommt nicht daran vorbei alle Erfolge des kenianischen Langstreckenläufers in einem Atemzug zu erwähnen.
Kipchoge gehört zu den besten Athleten aller Zeiten: Das untermauern seine Wettkampf-Ergebnisse auf die imposanteste Art und Weise.
Denn der Kenianer sammelt Medaillen wie andere Menschen Briefmarken. Zwei Bronze-, sechs Silber- und 13 Goldmedaillen hat Kipchoge bei den Olympischen Spielen, den Weltmeisterschaften oder den World Marathon Majors erlaufen.
Wie die meisten Leichtathleten kommt Kipchoge von der Bahn:
Auf 3.000 und 5.000 Meter schaffte es der Kenianer zwar ab und zu aufs Treppchen.
Aber seit seinem Wechsel zum Marathon dominiert Kipchoge die Königsdisziplin der Langstrecke: In zwölf von 13 Wettkämpfen lief Eliud Kipchoge zur Goldmedaille – seit April 2014 ist der Kenianer ungeschlagen.
Seine Siegzeiten nähern sich dabei Schritt für Schritt der 2-Stunden-Marke.
Aber ums Gewinnen geht es dem Kenianer schon lange nicht mehr: Kipchoge will Geschichte schreiben – er will der erste Mensch sein, der 42,195 Kilometer in unter zwei Stunden läuft.
Der Versuch die 2-Stunden-Schallmauer zu durchbrechen
Für dieses ambitionierte Ziel schließt sich Kipchoge im November 2016 mit dem Sportartikelhersteller Nike zusammen: Bei dem Projekt Breaking2 werden keine Kosten und Mühen gescheut, den besten Langstreckenläufer noch schneller zu machen.
Gemeinsam mit einem Experten-Team trainiert Kipchoge für dieses private Rennen.
Dabei steht er unter ständiger Beobachtung, um auf Trainings- und Ernährungsreize angemessen reagieren zu können.
Von der Überwachung der Hauttemperatur über die Erfassung der Hydrierung und der Zuckeraufnahme bis hin zur Reduktion des Luftwiderstands – bei Breaking2 wird nichts dem Zufall überlassen.
Und selbstverständlich braucht dieser Rekordversuch auch eine ideale Laufstrecke.
Die Streckenführung vom Autodromo Nazionale – dem Formel-1-Kurs in Monza – war dank sanften Kurven sowie der klimatischen Verhältnisse in Nord-Italien die optimale Rennstrecke für den Rekordversuch.
Am Morgen des 06. Mai 2017 startet der Labor-Marathon.
Leichter Nieselregen begleitet Eliud Kipchoge und sein Team bei der Reise, die 2-Stunden-Marke auf 42,195 Kilometer zu brechen.
2:00:25 Stunden später läuft Kipchoge über die Ziellinie in Monza.
Lediglich 26 Sekunden fehlen dem Kenianer, um Geschichte zu schreiben.
Hinter jedem Sportler steckt auch ein Trainer
Seine Teamkollegen beschreiben Eliud Kipchoge als einen unglaublich talentierten, ehrgeizigen und disziplinierten Läufer.
Kein Wunder: Denn knapp zweieinhalb Jahre nach dem gescheiterten Versuch in Monza startet Kipchoge seinen zweiten Anlauf, die 2-Stunden-Schallmauer im Marathon zu durchbrechen.
Das Projekt wird von der INEOS Gruppe gefördert und unter dem Namen ineos159Challenge global vermarktet.
Das Training für diese Challenge startet im Mai 2018 mit dem Aufbautraining: In dieser Zeit geht Kipchoge dreimal pro Woche für zweineinhalb Stunden ins Fitnessstudio.
Auf dem Programm stehen hauptsächlich Aerobic, sowie Kraft- und Mobilisationstraining.
Wie der Trainingsplan im Detail aussieht, bleibt ein wohlgehütetes Geheimnis zwischen Kipchoge und seinem langjährigen Coach Patrick Sang.
Sang, der bei den olympischen Spielen 1992 in Barcelona beim 3.000 Meter Hindernisslauf die Silbermedaille gewann, trainiert Kipchoge seit 2002.
Bereits ein Jahr später führt der Ex-Profi den Ausnahme-Athleten zum Weltmeistertitel über 5.000 Meter.
Der Rest ist bekannt.
Mit seinem Wechsel zur Marathon-Distanz gewinnt Kipchoge zwölf seiner 13 gelaufenen Wettkämpfe, läuft bei Breaking2 eine inoffizielle Fabelzeit, stellt in Berlin 2018 mit 2:01:39 Stunden einen neuen Weltrekord auf und steht ein Jahr später vor dem erneuten Versuch, die 2-Stunden-Marke zu knacken.
Beim zweiten Anlauf muss daher alles perfekt sein.
Sieben Tage vor dem festgelegten Datum fliegt Kipchoge nach Wien.
Unklar ist jedoch, ob der Rekordversuch auch tatsächlich eine Woche später stattfindet – das entscheidet das Experten-Team spontan.
Es darf weder zu kalt noch zu warm sein – bei Temperaturen zwischen 7°C-14°C läuft Kipchoge am liebsten.
Die Luftfeuchtigkeit sollte idealerweise unter 80 Prozent betragen.
Wird es ein warmer Tag, startet der Wettkampf in den frühen Morgenstunden; wird es ein schwüler Tag, läuft Kipchoge den Marathon so spät wie möglich.
Leichter Regen ist akzeptabel. Regnet es stark, fällt der Versuch ins Wasser. Sollte es am Wettkampf-Tag zu windig sein, wird der Laborversuch verschoben.
Abgesehen von den Wetterverhältnissen tragen bei der ineos159Challenge aber auch ganz andere Faktoren zum Erfolg bei.
Teamwork statt Einzelsport
Wer glaubt, Laufen sei ein Einzelsport, der ist noch nie in den Genuss einer Pacemaker-Gruppe eines Volkslaufs gekommen.
Denn ähnlich wie im Radsport geht es auch beim Marathon darum, den Star-Athlet sicher ins Ziel zu führen.
Das stellen die sogenannten Tempomacher sicher.
Das Pacemaker-Team von Kipchoge besteht aus 35 der weltbesten Athleten.
Namhafte Sportler wie Bernard Lagat, Augustine Choge oder Jakob Ingebrigtsen sollen für Kipchoge das Tempo über die gesamten 42,195 Kilometer aufrecht halten: Der Kenianer muss dabei jeden Kilometer in 2:50 Minuten laufen, um unter zwei Stunden zu laufen.
Trotz der sportlichen Erfolge ist keiner der Pacemaker in der Lage dieses Tempo über eine längere Distanz zu halten – Bei der ineos159Challenge werden die Pacemaker-Teams deshalb zweimal pro Runde ausgetauscht.
Sowohl die Formation als auch die Rotation spielen bei dem Rekordversuch eine elementare Rolle.
Im Mittelpunkt steht natürlich Kipchoge selbst: Sein Team von sieben Pacemakern kesselt ihn förmlich ein.
Fünf Pacer laufen in einer V-Formation vor Kipchoge. Zudem wird der Kenianer von zwei weiteren Tempomachern, die hinter ihm laufen, flankiert.
Das Pacemaker-Team wird von einem Teamcaptain geführt: Er läuft an der Spitze der V-Formation direkt vor Kipchoge und stellt sicher, dass niemand aus der Formation ausbricht.
Die Rotation des Pacemaker-Teams gleicht dabei immer einer perfekt einstudierten Choreografie des Wiener Staatsballetts.
Zuerst werden die vordersten beiden Läufer ersetzt, danach folgen die Läufer drei und vier, ehe der Team-Captain und die beiden hinteren Läufern durch drei frische Athleten ersetzt werden.
Dieses Zusammenspiel der Gruppe wurde in mehreren Tests auf Aerodynamik und Effizienz geprüft – die Pacer halten für Kipchoge nicht nur das Tempo, sie verschaffen ihm auch den notwendigen Windschatten, damit der Top-Athlet möglichst kräfteschonend laufen kann.
Viele Leute unterschätzen den psychologischen Vorteil im Laufsport: Kipchoge ist es gewohnt in einer großen Gruppe zu trainieren.
Die jeweiligen Team-Captains gehören nicht nur zu den schnellsten Läufern der Welt. Sie sind auch eng mit Kipchoge befreundet.
Sie wissen genau, wann der Weltrekordhalter motiviert werden muss.
Der Kenianer selbst kann sich gleichzeitig voll und ganz auf seinen Rhythmus konzentrieren: Er vertraut seinem Pacemaker-Team.
Roboter-Auto als Schrittmacher
Jeder, der mal einen Marathon gelaufen ist, weiß wie schwierig es ist, ein konstantes Tempo über 42,195 Kilometer zu halten.
Bei dem inoffiziellen Weltrekord-Versuch ist die gleichbleibende Geschwindigkeit allerdings der Schlüssel zum Erfolg.
Denn Tempo-Schwankungen auszugleichen, erfordert mehr Krafteinsatz als das Laufen einer konstanten Pace.
Um sicherzugehen, dass Kipchoge und sein Pacemaker-Team ein konstantes Tempo halten, fährt ein Elektro-Wagen in der angepeilten Wettkampf-Geschwindigkeit einige Meter vor den Läufern.
Während der Fahrt projeziert das Führungsfahrzeug Markierungen per Laser auf die Strecke, damit die Läufer nicht nur die Pace, sondern auch die Formation besser halten können.
Neuer Asphalt soll Fabelzeit ermöglichen
Wien ist bekannt für Kaffee, Fiakerfahrten und Sisi.
Doch die Stadt hat viel mehr zu bieten als Kulinarik, antike Mobilitätskonzept und eine weltberühmte Kaiserin.
Die österreichische Hauptstadt zieht jährlich knapp 16,5 Millionen Touristen in seinen Bann.
Besonders beliebt ist der Wiener Prater.
Für Touristen ist der Prater ein Rummelplatz – für die Wiener selbst ist das 6 km² große Areal jedoch die grüne Lunge der Stadt.
Denn auf der Schlagader des grünen Praters säumen 2.500 Bäume die schnurgerade, 4,5 Kilometer lange Hauptallee zwischen Praterstern und Lusthaus.
Genau diese lange Chaussee ist für die ineos159Challenge zum Schauplatz für den Rekordversuch auserkoren worden: Die Hauptallee ist wahrscheinlich die flachste Strecke aller Zeiten – auf der gesamten Marathon-Distanz muss Kipchoge einen Anstieg von gerade einmal 2,4 Meter „bewältigen“.
Darüber hinaus ist die Luftqualität in der Prater-Region atemberaubend.
Die Baum-Allee sorgt nicht nur für eine besonders gute Luft, sondern bietet den Läufern auch Windschutz.
Zudem finden auf der Hauptallee genügend Schaulustige Platz, um Kipchoge und sein Team über die gesamte Distanz anzufeuern.
No Human Is Limited
Kipchoge startet mit der angepeilten Wettkampf-Pace von 2:50 min/km in den Rekordversuch.
Er findet schnell in seinen Rhythmus: Gibt es einen idealen Laufstil, so hat ihn Kipchoge sicherlich perfektioniert.
Lediglich nach 27 Kilometern kommt der Kenianer bei der Pacemaker-Rotation ins Stolpern.
Davon lässt er sich aber keinesfalls beeindrucken. Kipchoge rennt den Wettkampf konstant wie ein Uhrwerk.
Während der TV-Übertragung leuchten die Durchgangszeiten von 2:50 Minuten pro Kilometer immer wieder grün auf: Auf seinem Weg, die 2-Stunden-Schallmauer zu durchbrechen, kann nur noch ein grober Konzentrationsfehler Kipchoge einen Strich durch die Rechnung machen.
Denn er hat sich ein ordentliches Zeitpolster erlaufen.
Der Kenianer hat ein breites Grinsen auf dem Gesicht – das ist Kipchoges Art sich selbst zu motivieren und um den Schmerz der letzten Kilometern dieses Marathons zu ertragen.
Die letzten 600 Meter gehören Kipchoge ganz allein – wie man es von ihm gewohnt ist, setzt der Kenianer zum finalen Schlusssprint an.
Ein Sprint, der allen Kritikern beweist: „No human is limited“ – kein Mensch hat Grenzen.
Ein Sprint, der die ineos159Challenge nach 01:59:40,2 Stunden beendet.
Ein Sprint, der Geschichte schreibt.
Der Unterschied zu #Breaking2
Bei Nike stellt man sich heute die Frage, was 2017 in Monza schief gelaufen ist.
Denn der Versuchsaufbau zwischen Breaking2 und der ineos159Challenge ist nahezu identisch.
- In beiden Tests gab ein Elektro-Auto die konstante Pace vor
- In beiden Tests spendeten rotierende Pacemaker-Teams Kipchoge ausreichend Windschatten
- In beiden Tests wurde die Flüssigkeits- und Kohlenhydrat-Zufuhr von Ernährungsexperten überwacht und optimiert
Und doch macht eine Kleinigkeit den großen Unterschied aus.
Denn während Kipchoge in Monza ausschließlich von seinen Begleitern motiviert wurde, feuerten die Zuschauer, Fans und begeisterten Besucher ihren Star-Athleten in Wien über das gesamte Rennen hinweg an.
Es reicht nunmal nicht, einen begnadeten Läufer mit einem professionellen Team und der neusten Technologie zu unterstützen.
Wer der Welt beweisen will, das kein Mensch Grenzen hat, braucht den Support eines viel größeren Teams.
Dieser Artikel ist zuerst in der LAUFZEIT 1/20 erschienen.
Hey Robin,
echt abgefahren, wie viel Aufwand da für nicht einmal zwei Minuten betrieben wurde, die man schneller sein msust, als beim Berlin Marathon. Und dann zählt das noch nicht einmal als offizieller Weltrekord...
Hat er nicht zusätzlich auch die Schuhe getragen, die bei offiziellen Wettkämpfen verboten sind?
Gefühlt hätte er mit dem Setup noch eine ganze Ecke schneller sein dürfen, aber wurde halt alles darauf optimiert, keine Ressourcen zu verschwenden und dann womöglich am Ende zu scheitern.
Viele Grüße
Jahn
Hey Jahn!
Ja, was Kipchoge da geschafft hat, ist fast schon übermenschlich - ich würde das Tempo nicht mal für 400 Meter durchhalten 🙂
Und tatsächlich hatte er eine Weiterentwicklung vom Vaporfly: Kipchoges Schuh hatte im Vorfußbereich noch ein Luftkissen eingebaut.
Ob er mit dem Setup jedoch noch schneller hätte sein können, weiß ich nicht. Aber wer am Ende nochmal das Tempo erhöhen kann, ist die 42 Kilometer davor eher defensiver gelaufen 😉
Liebe Grüße
Robin