Meine Stirnlampe und die rot-blinkenden LED-Leuchten meiner Vordermänner sind die einzigen Lichtquellen in dieser pechschwarzen Nacht.
Die Trailrunning-Stöcke meine wichtigsten Helfer.
Ohne sie würden die rund 6.000 Höhenmeter zäh.
In meinem Kopf schwirrt nur eine einzige Frage:
Was zur Hölle tue ich hier?
In diesem Artikel
Innsbruck Alpine Trailrun Festival 2023
Wieder Innsbruck.
Wieder das Innsbruck Alpine Trailrun Festival.
Im Jahr 2022 bin ich noch über die 65-Kilometer-Distanz gestartet.
Mehr lesen: Innsbruck Alpine Trailrun Festival 2022: Von Stürzen, Krämpfen, Aufgeben und Durchbeißen
Heute ist aber alles anders.
Denn die "Masters of Innsbruck“ starten ihre Reise über 110 Kilometer an einem Freitag um Mitternacht.
Und ich bin einer dieser Verrückten.
Die bevorstehende Ultra-Distanz ist in den Stunden vor dem Wettkampf allerdings mein geringstes Problem.
Mein Gedankenkarussell kreist um die richtige Verpflegung.
Schließlich bin ich es gewohnt, Wettkämpfe morgens zu bestreiten.
Das frühe Aufstehen, das Frühstück, der Kaffee, der Klogang – mein Morgen-Ritual habe ich über Jahre individualisiert und optimiert, um die bestmögliche Performance am Race Day abrufen zu können.
Dementsprechend bin ich am heutigen Wettkampf-Tag überfordert, wie ich den Tagesablauf gestalten soll.
Klar, jeder Tag beginnt mit dem Frühstück.
Allerdings lasse ich mich vom Hotel-Buffet dazu verleiten, etwas beherzigter zuzugreifen.
In meiner Laien-Vorstellung bilde ich mir ein, das Frühstück bis Mitternacht angemessen verdaut zu haben.
Bei 16 verbleibenden Stunden bis zum Start eine durchaus vertretbare Ansicht.
Doch wie immer, ist es nicht die Menge, sondern die Lebensmittel an sich.
Kein Ernährungsberater könnte Joghurt mit Früchten und Nüssen ablehnen – wohl aber die Lauf-Experten, die immer wieder predigen, bei dem zu bleiben, was der Körper gewohnt ist.
In meiner gesamten Vorbereitung bin ich noch nie auf Joghurt mit Früchten und Nüssen gelaufen.
Rookie-Mistake.
Die Verkettung von Fehlern zieht sich durch den gesamten Tag.
Viel schlimmer.
Sie hatte bereits am Vortrag begonnen, als ich die Spaghetti „Al Arrabiata“ gegessen habe.
Nudeln? Gut.
Scharf? Nicht so smart.
Der Flammkuchen zwölf Stunden vor dem Ultra-Lauf hat das Fass dann wohl überlaufen lassen.
Möglicherweise aber auch der halbe Liter Kaffee am Abend, der mich energiegeladen durch die Nacht bringen sollte.
An einen Powernap ist vor dem Wettkampf daher nicht zu denken.
Das Koffein kickt.
Die Neuronen brechen jeden Streckenrekord, während sie meine Gedanken über das Netz der Großhirnrinde transportieren.
Es sind die üblichen Gedanken, die meine Nervosität befeuern.
Wie laufe ich das Rennen an?
Womit und zu welchem Zeitpunkt verpflege ich mich?
Wann nutze ich meine Trailstöcke?
Hab ich meine gesamte Pflichtausrüstung auch vollständig gepackt?
Es ist müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Denn im Idealfall steht die Race-Strategie und wird ausschließlich in den Momenten angepasst, wenn Unvorhergesehenes eintrifft.
Ich höre auf zu denken und lasse mich stattdessen von seichtem Entertainment ablenken.
Verkrampfter Start
An der Startlinie zerstört mein aufgeblähter Bauch sämtliche Hoffnung, die 110 Kilometer rund um Innsbruck ohne größere Probleme zu überstehen.
Zu den Gasen in meinem Körper macht sich zudem noch Aufregung breit.
Das letzte Mal, als ich so nervös war, wurde ich bei meinem mündlichen Abitur in Deutsch geprüft.
Damals schickte mich das Gremium mit einer wohlwollenden vier Minus wieder nach Hause.
Derartiges Mitleid kann ich heute vom K110 nicht erwarten.
Die letzten Minuten vor dem Start sind episch.
Die lauwarme Nacht ist sternenklar, die Musik elektrisierend und die Fans, die sich selbst kurz vor Mitternacht an den Streckenrand am Landestheater gestellt haben, sorgen für eine frenetische Atmosphäre.
Ich überquere die Startlinie im hinteren Feld des Teilnehmer-Blocks, um nicht gleich in kleine Wettrennen an der Spitze verwickelt zu werden.
Die Läufer der 85-Kilometer-Distanz sind gleichzeitig mit uns gestartet – deshalb ist von einem hohen Anfangstempo auszugehen.
Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren hat der Veranstalter die Strecke leicht angepasst.
Diese führt die Athleten jetzt auf Abschnitten der „World Mountain and Trail Running Championship 2023“, was mir im Verlauf des Ultra-Trails noch zum Verhängnis werden sollte.
Für die Trail-WM hat man sich nämlich eine Strecke mit besonders langen und steilen Anstiege ausgedacht.
Zunächst laufen wir durch die Altstadt und vorbei am „goldenen Dachl“ – dem Wahrzeichen von Innsbruck.
Über den Alpenzoo geht es hinaus Richtung Hall in Tirol.
Meine Trailrunning-Stöcke kommen bereits nach zwei Kilometern zum Einsatz.
Bei der Analyse des Streckenprofils hatte ich zuvor noch überlegt, die erste Hälfte des Wettkampfs ohne Hilfsmittel zu laufen.
Meine Trainerin von Two Peaks Endurance riet mir von diesem riskanten Vorhaben jedoch ab.
Zum Glück habe ich ihren Rat befolgt.
Die ersten Anstiege sind zwar nicht steil, dafür aber lang.
Ohne unterstützendes Equipment hätte ich hier sicherlich einiges an Körner verschwendet.
Auf den Uphills bleibe ich in meiner Herzfrequenz-Zone, überhole die ersten Teilnehmer, die nach dem Start scheinbar durch die Innsbrucker Altstadt gesprintet sind, nur um den ersten Hügel im lockeren Wanderschritt zu erklimmen.
Meinem Tempo schließen sich drei weitere Athleten an.
Dummerweise scheint niemand von uns den GPX-Track auf seiner Laufuhr richtig lesen oder die Wegmarkierung finden zu können, weshalb die Gruppe auf der Hälfte des Anstiegs eine Abzweigung verpasst und fünf Minuten planlos nach der korrekten Route sucht.
Dieses Orientierungslosigkeit wiederholt sich im Verlauf des K110 noch einige Male.
Ein echter Downer für die eigene Mentalität.
Mit einem Platz auf dem Podium habe ich aber ohnehin nicht geliebäugelt.
Ziel ist es, den Wettkampf bestmöglich zu laufen, Erfahrung auf der ultralangen Distanz zu sammeln und das Rennen zu genießen.
Sofern man 110 Kilometer mit einem krampfenden Magen überhaupt genießen kann.
Die Nacht verläuft wie im Flug.
Flowige Trails führen uns über verzauberte Pfade – vorbei an den ersten Versorgungsstationen in Romediwirt und in Hall.
Auf der südlichen Seite des Inntals bleibt die Route schnell und laufbar.
Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren ersparen wir uns den Anstieg zum Patscherkofel.
Die Höhenmeter sammeln wir vermehrt in der zweiten Hälfte des Rennens – genau dann, wenn es richtig schmerzt.
Aufgrund von starker Regenfälle im Mai ist die Sillschlucht leider nicht passierbar, daher führt uns die Strecke vorbei am „Bergisel“ auf die „Höhe Mutters“, ehe wir in der Nähe vom „Gärberbach“ zurück in die Schlucht laufen.
Von hier gelangen wir wie gewohnt zum Verpflegungspunkt „ÖAMTC“.
Bis zu diesem VP bin ich gut unterwegs.
All die Zeit hatte ich gedacht, ich befände mich im Mittelfeld der 100-Kilometer-Teilnehmer.
Allerdings fassen zwei Jungs, denen ich mich angeschlossen hatte, das aktuelle Renngeschehen präzise zusammen.
Ihnen zufolge belegen die beiden 85-Kilometer-Athleten aktuell Platz zwei und drei.
Schlagartig wird mir bewusst, dass ich mich unter den Top Drei vom K110 befinden muss.
Es ist schließlich unwahrscheinlich, dass die „Masters of Innsbruck“ sehr viel schneller als die 85k-Teilnehmer laufen.
Der Leistungsdruck bleibt aus, stattdessen überwiegt der Ehrgeiz.
Steil ist geil?
Ich werde jedoch schnell wieder auf den Boden der Tatsachen geholt.
Nach knapp 48 Kilometern wird es nämlich richtig steil.
Die nächste Versorgungsstation sowie meine Dropbag warten auf der „Schlicker Alm“ auf einer Höhe von rund 1.600m über Null.
Meine Energiedepots neigen sich zu diesem Zeitpunkt dem kritischen Füllstand.
Die Verpflegungsstrategie, die mich schon erfolgreich durch den 100-Kilometer-Lauf in der Sahara gebracht hat, funktioniert nicht.
Mehr lesen: Ultra Mirage 2020: 5. Platz beim 100-Kilometer-Lauf durch die Sahara
Das Pulver für den Energy-Drink löst sich in meinen Softflasks nicht auf.
Die kontinuierliche Versorgung mit wichtigen Kohlenhydraten bleibt somit aus.
Der Anstieg zur „Schlicker Alm“ wird zum zähen Hike.
Ich erklimme den Uphill im Wanderschritt.
Die zwei 85-Kilometer-Teilnehmer, an dessen Fersen ich mich so lange hab klammern können, sind nur noch winzige Silhouetten am Horizont.
Die Strahlkraft der aufgehenden Sonne lässt den Schweiß auf meiner Haut verdampfen.
Salzverkustet erreiche ich die Versorgungsstation, wo ich in Ruhe meine Dropbag empfange.
Die Stirnlampe, die mich verlässlich durch die Nacht gebracht hat, wandert in die zusätzliche Tasche für Verpflegung und Equipment.
Ich wechsle das T-Shirt, die Socken und meine Schuhe.
Der Vectiv Pro 2 von The North Face soll mir für die zweite Hälfte des Wettkampfs mehr Power geben.
Rund 20 Minuten verbringe ich auf der Alm.
Trotz des Energiedefizits lasse ich die Finger von fester oder ungewohnter Nahrung.
Ein Wettkampf ist schließlich der falsche Zeitpunkt für Experimente.
Selbst wenn ich mich total entkräftet über die Ziellinie schleppen muss, ein DNF aufgrund eines verstimmten Magens kommt heute nicht in Frage.
Apropos Magen.
Meine Bauchschmerzen haben sich bis zur „Schlicker Alm“ buchstäblich in Luft aufgelöst.
Zumindest eine Baustelle, um die ich mich nicht mehr kümmern muss.
Die nächste Herausforderung wartet allerdings schon nach weniger als sechs Kilometern.
Das Streckenprofil, was in diesem Moment den „Drei Zinnen“ in den Sextner Dolomiten ähnelt, zwingt mich erneut in einen zügigen Wanderschritt.
300 Höhenmeter auf einem Kilometer Distanz sind zu diesem Zeitpunkt für mich nicht mehr laufbar.
Ebensowenig der technische Downhill, der mich an den Rand der Verzweiflung bringt.
Vor zwei Jahren konnte ich mich beim „GGUT“ am Großglockner auf den langen Downhill-Passagen noch regenerieren.
In dieser alpinen Gegend ist das Bergablaufen für mich als Flachländer unmöglich.
Mehr lesen: Großglockner-Trail: 17. Platz beim Rennen auf Österreichs höchstem Berg
Ab hier hat die Route nichts mehr mit dem zu tun, was mir auf der ersten Hälfte des Wettkampfs abverlangt wurde.
Es geht kontinuierlich auf und ab – der nächste Verpflegungspunkt liegt auf 2340m über Null am „Hoadlhaus“.
Hier werfe ich alle meine Vorsätze über Bord.
Beherzt greife ich zu Studentenfutter, Salzbrezel, Müsliriegel und Cola.
Selbst Energy-Gels, die ich im Training nicht getestet hatte, finden den Weg in meinen leeren Magen.
Über die möglichen Konsequenzen verschwende ich keinerlei Gedanken.
Der Hunger und die Kraftlosigkeit überwiegen.
Zudem macht mich die Strecke mit jedem Schritt wütender.
Denn sowohl die Anstiege als auch die Downhills sind so steil und technisch, dass ich nur im Schneckentempo vorankomme.
Ich versuche erst gar nicht eine höhere Pace aufrechtzuhalten.
Der Respekt vor dem technischen Abstieg ist viel zu groß.
Allein mein Magen profitiert von der reduzierten Geschwindigkeit – selbst nach der explosiven Nahrungsmittelmischung habe ich keinerlei Probleme.
Leider aber auch nicht bedeutend mehr Energie.
Überraschendes Finish
Am Ende dieses Abschnitts mit atemberaubenden Aussichten – die ich jedoch kaum wahrgenommen habe – geht es hinab zur Versorgungsstation in Grinzens.
Zumindest hätte hier laut offizieller Streckenbeschreibung ein VP sein müssen.
Nach rund 80 Kilometern in den Knochen kann es durchaus sein, dass ich mit einem Tunnelblick schlichtweg an der Wasserstelle vorbei gelaufen bin.
Ärgerlich ist es trotzdem.
Die offiziellen Energy-Gels der Veranstaltung haben mir zwar zusätzliche Kraft verliehen.
Der Blutzuckerspiegel droht jetzt aber ins Bodenlose zu rutschen.
Ich hätte den Nachschub händeringend gebrauchen können.
Immerhin bietet der Wanderweg ausreichend Möglichkeiten die leeren Trinkflaschen wieder aufzufüllen.
Die Strecke führt mich über den „Axamer Panoramaweg“ nach Birgitz und dann über fast gewohntem Weg hinüber nach Kranebitten zur nächsten Versorgungsstelle.
Hier tummelt es sich, denn an diesem VP treffen sich die Teilnehmer aller Distanzen.
Dabei scheinen die Athleten den Verpflegungspunkt gar nicht verlassen zu wollen.
Uns allen steht nämlich eine letzte Mammut-Aufgabe bevor.
Mehr als 1.000 Höhenmeter müssen bewältigt werden, um auf den Dächern Innsbrucks Richtung Ziel laufen zu können.
Nach 90 Kilometern in den Knochen und bei glühender Mittagshitze wird der Monster-Uphill also richtig spaßig.
Ich sehe es positiv.
Immerhin profitiert mein Teint von dem langen Tag in der Sonne.
Mit diesem positiven Mindset nehme ich den Anstieg in Angriff.
Die Trailrunning-Stöcke schwingen im Gleichschritt, mein Tempo als zukünftiger „Master of Innsbruck“ ist deutlich schneller als das der anderen Teilnehmer.
Und so hängen sich zwei ambitionierte Läuferinnen an meine Fersen.
Mir ists recht – geteiltes Leid ist halbes Leid.
Für die nächsten acht Kilometer benötige ich fast drei Stunden.
Allein der Gedanke an den bevorstehenden Downhill und der Weg zum Ziel lässt meine Beine kontinuierlich rotieren.
Am „Gipfel“ angekommen, schwingt das Wetter plötzlich um – der wolkenlose Himmel zieht sich mit dichten Regenwolken zu.
Das leichte Nieseln wird schlagartig zum Sturzregen.
Glücklicherweise befinde ich mich gerade auf dem Weg in den bewaldeten Downhill zurück nach Innsbruck.
Euphorie macht sich breit, als mir meine Laufuhr den letzten zu laufenden Kilometer signalisiert.
Entlang des Inn laufe ich über die „Europaratsalle“ zurück zum Landestheater.
Nach 113 Kilometern und einer Nettozeit von 16:32:01 Stunden wird mir die Finisher-Medaille um den Hals gehängt.
Völlig entkräftet und übermüdet werfe ich einen Blick auf mein Handy.
Meine Mutter hat mir als erste gratuliert:
Well done Robson – 5th place, 112Ks – 5,570 altitude – amazing – sooo proud, wish we'd been there.
Ungläubig überprüfe ich die offiziellen Ergebnisse.
Aufgrund der langen Hiking-Passagen hatte ich eine Platzierung unter den ersten 30 schon längst abgeschrieben.
Doch auf der Website steht es schwarz auf weiß.
Das Podium habe ich zwar um mehr als 60 Minuten verpasst.
Auf die große Bühne darf ich als dritter meiner Altersklasse trotzdem.
Es ist ein besonderer Moment in meiner Karriere als Ultra-Trailrunner.
Das einzige Problem?
Die Sieger werden erst gegen 20 Uhr geehrt.
Nach einer erfrischenden Dusche lasse ich das Rennen Revue passieren.
Körperlich befinde ich mich noch in einer guten Verfassung.
Das lässt sich jetzt unterschiedlich interpretieren.
War ich einfach gut auf das Innsbruck Alpine Trailrun Festival 2023 vorbereitet?
Oder bin ich den Wettkampf zu defensiv angegangen?
Ich übe mich in konstruktiver Selbstkritik.
Ja, die Verpflegung war katastrophal.
Ja, die technischen Passagen hätte ich auch trainieren können.
Ich hätte dafür nur häufiger ins Siebengebirge fahren müssen.
Und ja, hätte ich zu jederzeit gewusst, auf welchem Rang ich mich befinde, hätte ich bei den Uphills möglicherweise mehr Gas gegeben.
Hätte, hätte, Fahrradkette.
Ich bin mit meinem Ergebnis natürlich zufrieden.
Schließlich kann ich mich jetzt offiziell als "Master of Innsbruck" bezeichnen.